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Privatgelehrter

Versuch über den Privatgelehrten (zweiter Teil)

Seit das Kapital als Gesamtheit der ökonomischen Verhältnisse immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens unter sich subsumiert hat und direkt bestimmt (das Parlament müsse sich nach Angela Merkel „marktkonform“ verhalten), verschärft sich die Dialektik der Aufklärung. Sie besteht darin, dass zur Kritik an der Herrschaft diese vorausgesetzt ist. Kritik kann nur durch allgemein geltende Urteile geübt werden, die Herrschaft ist aber immer nur partikular. Da aber, um notwendig Allgemeines herauszufinden, die Freistellung von der Arbeit gehört, deshalb Herrschaft eine Voraussetzung des Denkens ist, besteht ständig die Gefahr, dass die Kritik an Herrschaft umschlägt in deren Affirmation. Dem will der Privatgelehrte entgehen, auch indem er auf seine ökonomische Unabhängigkeit pocht.
Deshalb kann man sagen: Der Privatgelehrte ist der letzte Priester der Wahrheit. Er vertritt einen eminenten Wahrheitsbegriff, das heißt einen solchen, der sich der metaphysischen Implikationen und der ontologischen Fundierung bewusst, nicht aber an partikularen Interessen ausgerichtet ist. Privat heißt wörtlich: Beraubung, ein Privatier ist von der Gesellschaft beraubt, er ist nicht eingebunden in den Funktionszusammenhang von Kapitalproduktion und Konsum, sondern steht daneben, sodass er mit fremdem Blick darauf schauen kann.
Er ist nicht an das Ideal gebunden, das die besseren Möglichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, sondern er kann sein Ideal radikal dem Bestehenden entgegenstellen, weil er ohne Rücksicht auf Karriere, herrschende Meinung und die Ansichten der angepassten Intellektuellen denken kann, er ist nur dem triftigen Argument aufgeschlossen und akzeptiert nur dieses.
Stünde er auf einem ausgesetzten Pfad, unter ihm der steile Abhang, in den zu stürzen tödlich wäre und in den er jederzeit fallen könnte, ohne etwas dagegen tun zu können, etwa weil ein Steinschlag drohte, und hätte er die Alternative, ein Bewusstsein vom nahenden Tod zu haben oder sich zu berauschen, in Illusionen zu verlieren, durch Wegschauen die Gefahr zu verdrängen, er würde das Bewusstsein wählen, auch wenn es noch so schmerzt. Sein Privileg ist es, mit Bewusstsein unterzugehen.
Der Privatgelehrte sieht in den heutigen Universitäten nur einen leerlaufenden akademischen Betrieb, auch wenn im Einzelnen immer noch gute Arbeit geleistet wird. Der Wissenschaftsbetrieb ist heute durch drei Tendenzen gekennzeichnet:
- Umwandlung der Naturforschung in Technologie
- Ökonomisierung der Wissenschaft und damit Liquidation der Tradition
- Verbiegung des Selbstbewusstseins der Studierenden und ihrer Lehrer.
Nach Michael Wolf ist der Bologna-Prozess, der an den Universitäten durchgesetzt wurde und immer noch wird, ein hochschulpolitischer Putsch. (www.kritiknetz.de) Die Autonomie der Universitäten, wie sie das humboldtsche Universitätsmodell intendierte, wird zerschlagen. Hochschulen sollen analog zu Wirtschaftsunternehmen strukturiert werden, mit Marx ausgedrückt: Die Hochschulen sollen real unter das Kapital subsumiert werden. Der Zweck dieser Ökonomisierung der Hochschulen ist es, die Sozialisation und Qualifikation der Arbeitskräfte auf das zu reduzieren, was das Kapital benötigt. Die Wissenschaftsfreiheit wird eingeschränkt durch Umsetzung von Managementstrukturen, Kommerzialisierung menschlicher Ressourcen, die einer solchen Kommerzialisierung nicht zugänglich sind. Eine Reflexion des Wissens und ein Selbstbewusstsein über die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen das Wissen steht, sollen verhindert werden: durch abfragbares Wissen, Extensivierung von Prüfungen, Gängelung durch Studienpläne. Bildung wird zur fachidiotisierenden Schmalspurausbildung ohne Freiräume für geistige Erfahrung, Kreativität und Reflexivität. Versucht wird ein subtiler, aber dennoch totaler Zugriff auf die menschliche Subjektivität. Die Universität zerfällt in partikulare Abteilungen ohne Zusammenhänge, die Studiengänge werden modalisiert. Die Studenten werden analog zur Wirtschaft angesehen als Unternehmer ihrer selbst, die sich mit ihrem angelernten Wissen vermarkten sollen.
Die neoliberalen Eiferer fordern von einem (angehenden) Akademiker, sich marktkonform zu verhalten und sich selbst als Humankapital zu betrachten, um sich selbst am besten verwerten zu können, d. h. sich geeignet zur Ausbeutung durch das Kapital zu machen. Dagegen pfeift der Privatgelehrte auf den Markt, er ist sich Zweck an sich selbst und kein Mittel des Kapitals mehr, dessen Ausbeutung er sich entzogen hat. Das ermöglicht ihm, privilegiert zu sein. Der Bologna-Prozess zwingt die Studenten, sich vervielfachten Prüfungen auszusetzen - der Privatgelehrte setzt sich nicht dieser Demütigung und diesem Misstrauen aus, sondern prüft die Inhalte, die bloß abgefragt werden, ob sie begründet oder wahr sind. Man zwingt die Studenten, sich der Straffung und Verkürzung der Studienzeiten zu unterwerden – der Privatgelehrte nimmt sich Zeit, geistige Prozesse laufen nicht nach der mechanischen Zeit ab. Er durchdenkt manchmal einen Satz mehrere Tage. Die angehenden Akademiker sollen ihr Verhalten und Denken der kalkulierenden Denkungsart unterwerfen und den Habitus der Selbstvermarktung einüben – der Privatgelehrte will seine Bildung nicht dem Markt zuführen, auch wenn er Bücher verkauft, er übt den Habitus des Gelehrten ein, der Wahrheiten herausfindet und sie als allgemeine Arbeit der Gesellschaft zur Verfügung stellt, damit sie das unsägliche Wirtschaftssystem überwindet. Das Kapital fordert von angehenden Akademikern „Autonomie“ – ein Widerspruch in sich -, d. h. im Rahmen der Erfordernisse des Marktes und des politischen Machterhalts Eigeninitiative, Anpassungsfähigkeit, Mobilität und Flexibilität zu entwickeln. Der Privatgelehrte ist demgegenüber ein Denker, der das System sprengen will; seine Eigeninitiative ist grenzenlos, wenn es um die Errichtung einer vernünftigen Gesellschaft geht; er passt sich nicht an bis hin zur Sturheit, wenn es darum geht, an erkannte Wahrheiten festzuhalten; er sitzt zu Hause bei seiner handwerklichen Produktionsweise und ist bestenfalls mobil und flexibel, wenn er Vorträge hält, Kurse gibt oder seine Bücher vorstellt; der Privatgelehrte ist der wahre Autonome (Selbst-Gesetzgebende), weil er sich an der Vernunft orientiert. Dem Privatgelehrten kommt deshalb heute ein „heroisches Moment“ bei der Bekämpfung des herrschenden Blödsinns zu, auch wenn er weiß, dass eine Gesellschaft, die Helden braucht, nicht in Ordnung ist.
Zwar kommen dem Denkenden nicht die Gedanken als „Geschehen“, er muss schon aktiv werden, aber wenn die Gedanken ein fundamentum in re haben, dann sind sie auch nicht bloß seiner Willkür oder seiner wissenschaftlichen Spontaneität geschuldet: Spontaneität des Denkens, die Anstrengung des Begriffs und die Offenbarung der Gegenstände gehören bei der Wahrheitsfindung zusammen.
Doch der Privatgelehrte muss sich hüten, die Gedanken, die ihm kommen, als bloße Fundstücke zu behandeln. Nicht selten sind solche Fundstücke bloß höhere Vorurteile, ihre Auswahl bestimmenden Kriterien die Vorurteile des Wissenschaftsbetriebs oder der Kulturindustrie. Wenn sich Philosophen weigern, einen Gedanken zu reflektieren, nur weil er von Marx oder Adorno kommt, dann ist dies die krasse Variante eines inzestuösen Geistes, der sich seiner Aufgabe wohl bewusst ist: die Legitimierung des Bestehenden um jeden Preis. Er legt von vornherein den Polizeimaßstab an und beurteilt alles danach, ob es erlaubt, d. h. dem System verträglich und der Karriere nützlich, ist oder nicht. Daran hat sich seit dem Kaiserreich und seinen autoritären „Geisteswissenschaftlern“ nichts geändert, auch wenn die äußeren Formen legerer geworden sind.
Nach der FAZ ist der Denker ein Heros: „Im entrückten Blick, der den pragmatischen Lebenszusammenhang überschreitet, anders als der Blick des Träumers aber konzentriert und entschlossen ist, fasst die populäre Ikonographie dieses Paradoxes zusammen. Der Denker fungiert, exemplarisch in Rodins berühmter Skulptur dargestellt, oft als nach innen gewendeter Heros. In sich versunken, blickt der, das Kinn auf den Handrücken gestützt, gleichsam seine Gedanken an, denen er sich eher konfrontiert, als ihnen nachzuhängen.“ (Magnus Klaue, in: www.faz.net) Dagegen ist der Privatgelehrte, dessen geistiges Herz links schlägt, eher ein verhinderter Revolutionär, der, da er nichts verändern kann, umso gründlicher den falschen ontologischen Zustand der Gesellschaft aufklären, die philosophischen Grundlagen der Gesellschaftstheorie präzise herausarbeiten will und mit seiner Feder oder seinen Computer in das Rauschen der Meinungen kritisch eingreift. Der wahre Privatgelehrte ist nicht nur Denker, sondern wenn es sein muss und wenn es die historische Situation verlangt, zugleich politischer Aktivist, ein Status, von dem er letztlich träumt, vor dem er aber sich auch innerlich distanzieren muss, um nicht in theorielosen Aktivismus zu verfallen. Er kann die Reflexion der Gedanken und die politische Aktion miteinander dann verbinden, wenn er lehrend ein kritisches, eingreifendes und aufstachelndes Bewusstsein schafft – nur fehlen ihn meist die aufgeschlossenen Zuhörer. Diejenigen, die aktiv sind, sind meist von der Intellektuellenfeindlichkeit der heutigen Gesellschaft angekränkelt, nur das negative Vexierbild der herrschenden Vorurteile, so wie die Amokläufer regelmäßig ihre Morde mit Bestrafung, also dem Grundgedanken der bürgerlichen Justiz in der kapitalistischen Gesellschaft rechtfertigen, aus der sie doch vorgeben auszubrechen. Der Privatgelehrte gehört auch nicht zu denen, die über Fakten aufklären, in denen die regierenden Prinzipien nicht erkennbar sind. Indem Faktenhuberer sich vom Geist abkehren, ist ihre Parteinahme für die Unterdrückten immer schon das Einverständnis mit den bestehenden Verhältnissen, die sie nicht erkennen können oder wollen. Und die Reste des Bildungsbürgertums, die dem Privatgelehrten zuhören oder lesen wollen, genießen lediglich die pluralistische Meinungsfreiheit, wollen auch einmal kritisches Gedankengut zur Kenntnis nehmen, vielleicht auch sich wegen der dargestellten Probleme ein wenig gruseln, um andern Tags wieder ihren Beruf, ihrer häuslichen Pflichten nachzugehen und sich ansonsten mit den Glücksurrogaten der Kulturindustrie, an die sie von klein auf gewöhnt sind, zufriedenzugeben. Wer noch im Wohlstand lebt, will die Welt nicht verändern, es sei denn, er wird vom kritischen Gedanken erfasst.
Der Privatgelehrte ist weder ein Müßiggänger im Garten des Wissens, der sich bloß kontemplativ daran erfreut, wie weit es doch die Menschen an Einsichten gebracht haben; noch ist er ein Wissender im arbeitsteiligen Produktionsprozess, der von der Anwendung seiner Spezialkenntnisse seine Brötchen verdient. Er ist weder Wissensflaneur noch Fachidiot, sondern will, was die Menschheit sich erarbeitet hat, mit seinem ganzen Selbst genießen, um es produktiv weiter zu führen. Ob ihm das gelingt, kann nur von seinen Resultaten her beurteilt werden. Ob er ein Publikum findet, hängt nicht nur von ihm ab, sondern auch von denen, die ihm das Wissen abverlangen.
Der Privatgelehrte nimmt seine Bildung ernst. Er studiert das, was er heute in seiner Substanz an sich ist, von ihrer Entstehung her: sein ästhetisches geschultes Gefühl, seine technischen Fertigkeiten und sein wissenschaftliches und philosophisches Wissen, und begreift, warum seine Substanz, man kann auch sagen seine Seele, so geworden ist, wie sie ist. Mit jeder Einsicht bleibt der Privatgelehrte nicht, wie er ist, sondern er verändert sich – oft nur in kleinen Schritten. Er zehrt seine Substanz auf, indem sie ihn zu einer selbstbewussten Substanz wird. Jede Aneignung von Wissen ist ihm zugleich eine Modifikation seines Selbst, ohne dass dadurch seine Identität Achterbahn fährt. Bloßes Wissen lernen für äußere Zwecke, wäre ihm ein Gräuel. Wenn er sich mit einer Sache beschäftigt, dann verliert er sich in den Gegenstand, sein Geist ist ihm nur im absoluten Anderssein des Gegenstandes bei sich selbst. Und je mehr er allgemeine Gegenstände sich aneignet, umso mehr ist er seiner selbst gewiss. Der Privatgelehrte zweifelt an allem Möglichen, dieser Zweifel führt bei ihm aber nicht zur Resignation, sondern zur Einsicht, dass sein Wissen beschränkt ist und immer bleiben wird, und deshalb kommt er zu dem Anspruch,  Begriffe der intensiven Totalität alles Existierenden zu finden. Er wird die Unmöglichkeit, als Einzelner alles zu wissen, dadurch mildern, dass er sich Prinzipienwissen aneignet, dass er, wenn er einer Sache auf den Grund geht, nicht fürchten muss, sie sei nach ein paar Jahren überholt – denn Wahrheit kann man nicht widerlegen.
Wer diese Vorstellung von Bildung bestreitet und sagt, man sei längst darüber hinaus, der argumentiert nicht, er sagt gar nichts, er hat noch nicht einmal diesen Begriff von Bildung verstanden. Er ist, um es polemisch zu bezeichnen, auf dem Stand der frühen Steinzeit, wo man noch keine begriffliche Sprache hatte und sich allein durch Angrunzen verständigen konnte. Diese literarischen Analphabeten sind die Feinde des Privatgelehrten, wenn sie penetrant auf dieser Selbstreduktion beharren.
Der Privatgelehrte sucht in den erschienenen philosophischen Positionen nicht Meinungen, Standpunkte, Kenntnisse, sondern den lebendigen Geist in ihnen. Dieser ist die Entwicklung des Gedankens zur Wahrheit, zu dem jede Position der Philosophie nur ein argumentatives Durchgangsstadium, ein Moment im heutigen System der Philosophie ist, wenn es solch ein System bereits gäbe. Sein Interesse ist nicht, die Philosophie nach äußeren Interessen zu katalogisieren, etwa ob ein Philosoph ein Materialist oder Idealist sei, gar ein Halbmaterialist usw., sondern er will in jeder Gestalt der Philosophie das herausholen, was zu ihrem Fortschritt die entscheidenden Argumente (Beweisgründe) lieferte. Er weiß, dass jenes Ziel, die Wahrheit zu begründen, nicht in ihrer Totalität erreicht ist, er kann nicht sagen, ob es überhaupt erreichbar ist, aber deshalb lässt er sich nicht aus Bequemlichkeit zum Skeptizismus verleiten, der im krassen Widerspruch zum angehäuften Sachwissen steht, sondern er geht von einem avancierten Stand der Vernunft aus, zu dessen Weiterentwicklung er mit seiner allgemeinen Arbeit, sprich Wissenschaft, beitragen will.
Freiheit ist die Realisierung vernünftiger Zwecke. Sie beruht auf bereits angehäuften Produktivkräften, die objektivierte Freiheit sind, die aber nicht den vernünftigen Zwecken einer freien solidarischen Gesellschaft gehorchen, sondern vom Automatismus der Produktion um der Produktion willen, der permanenten Akkumulation von Mehrwert bestimmt werden. Insofern sind die Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft unfrei, auch der Privatgelehrte. Da er aber diesen Automatismus und den entfremdeten Zweck der Gesellschaft durchschaut, hat er ein Stück Freiheit diesem gegenüber gewonnen, in deren Perspektive die Abschaffung des automatischen Subjekts der Gesellschaft am Horizont erscheint. Dies ermöglicht ihm, ein Moment von Glück der Erkenntnis zu empfinden. Hatte Aristoteles noch in der Erkenntnis des Wahren das Glück des Geistes gesehen und darin das spezifisch menschliche Glück, so ist dies angesichts des Elends auf der Südhalbkugel und der angehäuften Desstruktivkräfte im Zusammenhang mit der Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise nicht mehr möglich. Die erkannte Wahrheit gewährt kein Glück mehr. (Angesichts der Sklaverei in der Antike, etwa in Athens Silberminen, und der vielen Kriege galt dieses Argument bereits gegen Aristoteles.) Aber indem der Gelehrte die Wahrheit über das Falsche erkennt und ausspricht, betätigt er seine heute mögliche Freiheit und genießt ein Glück des Bewusstseins, das in das universale Unglück hineinreicht. „Daß an Erkenntnis, deren mögliche Beziehung auf verändernde Praxis zumindest temporär gelähmt ist, auch in sich kein Segen sei, dafür spricht vieles. Praxis wird aufgeschoben und kann nicht warten; daran krankt auch Theorie. Wer jedoch nichts tun kann, ohne daß es, auch wenn es das Bessere will, zum Schlechten auszuschlagen drohte, wird zum Denken verhalten; das ist seine Rechtfertigung und die des Glücks am Geiste.“ (Adorno: Neg. Dial., S. 242 f.) Die temporär verstellte verändernde Praxis „gewährt paradox die Atempause zum Denken, die nicht zu nutzen praktischer Frevel wäre“. Auch das Verhalten des homo theoreticus ist ein „Stück Praxis, sei diese sich selbst noch so sehr verborgen“. (Ebda.)
Diejenigen aber, die gegen das Glück des Bewusstseins das pure sinnliche Vergnügen pointieren, vergessen, dass sie dadurch das spezifisch Menschliche, das Denken, ausblenden, sodass ihr sinnliches Vergnügen regrediert zum Gemeinen und bloß Tierischen. Wahres sinnliches Glück bedarf des Geistes, wie das Denken auf die Sinnlichkeit angewiesen ist. Das zeigt sich z. B. an Kants formale Bestimmung des Schönen als Übereinstimmung von Sinnlichkeit und Verstand, an dem sich die Popkultur regelmäßig blamiert, weil in ihr der Verstand nicht anwesend ist.
Auch an den Universitäten wird das Glück am Geiste, das in der Erkenntnis der Wahrheit liegt, systematisch verhindert. Im Konzert der akademischen Lehren, die alle ihre Auffassung über einen Gegenstand als wahr oder doch als wahrscheinlich ausgeben, also sich widersprechen, kann es nur zwei Reaktionsweisen geben: Resignation oder selbst der Sache auf den Grund zu kommen. Die Resignation äußert sich in der Vorstellung: Jeder habe seine eigene Meinung, ansonsten lernt man, was von einem verlangt wird. Um Examen zu bestehen, redet man seinem Professor nach dem Mund, im Übrigen hat man seine eigene Meinung, die zwar auch nicht besser begründet ist, aber den Schein von Unabhängigkeit gegenüber dem Dogma des Professors verbürgt. Die Folge ist, man versteht nicht einen philosophischen Gedanken adäquat. Der Privatgelehrte versucht dagegen, der Sache auf den Grund zu gehen. Er hat intellektuelles Selbstvertrauen genug, um sich dieser Aufgabe zu stellen. Er nimmt den Ärger in Kauf, der ihm droht, wenn er unbegründete Lehren nicht mehr hinnimmt. Sein Ziel ist es, ein wahres Selbstbewusstsein seiner Gesellschaft zu begründen.
Eine Gesellschaft, die ihr Selbstbewusstsein verliert, ist blind, ein bloßes Objekt fremder Mechanismen, heute die der Kapitalproduktion, von denen sie kein kritisches Bewusstsein mehr hat. Und da, wo Kritik geübt wird, ist sie flach, an bloßen Phänomenen ausgerichtet, nicht auf das Prinzipielle gehend – etwa wenn die Finanzwelt für die Krisen des Kapitalismus verantwortlich gemacht wird, wo doch jedes Kapital in seinem Prozess immer wieder auch als Bankkapital erscheint. Das ist das Propagandaniveau des deutschen Faschismus, der zwischen raffenden (Bank-)Kapital und schaffenden (Industrie-) Kapital unterschieden hat, um von den wahren Verhältnissen abzulenken.
Nur wenn die Individuen gebildet sind, sich also den objektiven Geist angeeignet haben, also ein Selbstbewusstsein (Bewusstsein von Gehalt des Bewusstseins) besitzen, weiß die Gesellschaft von sich, ihren Prinzipien und den sie beherrschenden Mechanismen. Versagen die Universitäten ein solches Selbstbewusstsein zu vermitteln, wird nur noch dogmatisiertes Fachwissen gelehrt, Aufklärung auf empiristische Faktenhuberei restringiert, dann ist der Privatgelehrte der einzige Typ des Intellektuellen, der die Gesellschaft davon abhält, vollends in Prinzipienblindheit zu verfallen. Angesichts der destruktiven Möglichkeiten, die in der kapitalistischen Gesellschaft offensichtlich existieren und noch versteckt in ihr schlummern, ist ein wahres Selbstbewusstsein über sie die Voraussetzung, dass sie nicht die letzte in der Geschichte der Menschheit sein wird.
So wird der Privatgelehrte sich bemühen, für den Rest seines aktiven Lebens derart zu sein, wie hier sein Typus skizziert wurde.

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Letzte Aktualisierung: 19.06.2012

 

19.06.2012